Auf Augenhöhe
Die unabgeschlossene Serie Auf Augenhöhe beschreibt ein Set von Portraits. Die konzeptionellen Vorgaben der ab 2015 entstehenden, inzwischen 130 Bilder umfassenden Serie sehen einen engen Bildausschnitt, eine identische Beleuchtungssituation und die indifferente, entspannte Mimik der Portraitierten vor. Im Gegenzug zur Strenge dieser Vorgaben stehen die Unwägbarkeiten, die aus der verwendeten Polaroidtechnik resultieren. Jedes Bild kennt nur einen Versuch. Und die Kopplung von Sucher und Auslöser schließt im entscheidenden Augenblick die Kontrolle des Fotografen aus. Einige Portraitierte nehmen dann den Augenblick der Belichtung dann tatsächlich zu einer Veränderung in Haltung oder Mimik wahr. Willkürlich-unwillkürlich individualisieren sie dadurch ihren Auftritt. Doch die durchs identische Setting und den Automatismus der Entwicklung gesetzte Kategorie strenger und allgemeiner Objektivität fungiert in Steinbachs Portraitserie schon selbst als Bedingung für das unvermittelte Aufscheinen von Subjektivität. Beispielsweise verfremdet die Spiegelverkehrtheit, die dem Polaroidabzug eignet, das Aussehen für den identifizierenden Blick anderer nachdrücklich – jedoch nicht für den eigenen Blick, der sich ja aus dem Spiegel kennt. Die mitunter gravierenden Entwicklungsspuren der Polaroids verleihen in der Serie zudem jedem Auftritt den Charakter einer einzigartigen Erscheinung. Sie wird durch die nicht vertuschte Materialität des Positivs mit Aluminiumrahmen und Papierlasche als solche realisiert und sozusagen inkarniert. Die Portraits sind also jeweils Unikate und zusätzlich nicht reproduzierbar. Schließlich lässt vor allem die Wahrnehmung der Bilder als Serie auch einen genuinen, ungewohnten Zusammenhang von Anonymität und Identität zur Geltung kommen. In ihm wird die Persönlichkeit jeweils als Geheimnis eines Gegenübers „auf Augenhöhe“ freigegeben. Dies geschieht so, dass die Zugänglichkeit des fremden Gesichts überall direkt auf dessen Fremdheit, auf sein nicht zu vereinnahmendes Eigensein führt. Dadurch wird die eigenartig unstimmige Formel eingeholt, derzufolge etwas als Unverständliches verstanden werden kann und im Falle des anderen Menschen – bei Strafe purer Projektion – auch so verstanden werden muss. Denn auf Steinbachs Bildern wächst die Unvertrautheit mit dem Gegenüber, dessen skulpturale Verschlossenheit, im Zuge wachsender Vertrautheit mit dem Gesicht. Die Dynamik von Öffnung und Verschließung findet sich, anders gesagt, nicht nur auf der Ebene des Objekts aufeinander verwiesen, ihre Verschränkung vollzieht sich vielmehr auch zwischen mir und dem, was ich im Bild sehe. Dazu kommt noch etwas. Im gleichen Maße, wie sie die Individuierung von Menschlichkeit mitvollziehbar macht, verweigert Steinbachs Serie weitergehende Auskünfte über die Portraitierten. Das verwundert, denn wir sind gewohnt, Individualität auf der Ebene anekdotischer Erzählung anzusiedeln. Jörg Steinbachs Portraits korrigieren dieses Missverständnis. Sie zeigen, dass Individualität die Quelle ist, aus der immer auch eine andere, stets noch unverwirklichte Gemeinsamkeit erwachsen kann. Wohl in diese Sinne nannte Steinbach seine Bilder im Gespräch einmal schlicht „demokratische Portraits“.
Thilo Billmeier